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Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut, hatte in der Ankündigung meiner Mutter jedoch die Drohung vernommen, sollte ich sie noch einmal ärgern, werde sie mich Salz lecken lassen, wie eine Ziege. Dann würde ich das Zeitliche segnen und sie hätte ihre Ruhe vor mir schrecklichen Nachgeburt. Ich war 5 Jahre alt und hatte bereits einen recht großen Wortschatz. Die Bedeutung von Worten und der daraus gebildeten Sätze machte ich an Tonfall und Betonungsmöglichkeiten fest. Worte, bei denen meine Mutter auch ein böses Gesicht machen kann, wenn sie leise spricht und trotzdem dabei lacht, sind kreuzgefährlich. Zum Beispiel „Mistvieh“ oder „nochmal“. Worte, die auf keinen Fall lachend ausgesprochen werden können, sind auf jeden Fall traurig, aber auch mit Geschichten verbunden. Zum Beispiel: Krieg, Hitler, Stalingrad, Bomben oder vermisst. Sagte jemand so ein Wort, folgte stets eine Geschichte. Ich habe mich immer orientiert, aber auch meine Ängste überprüft, indem ich den Klang der Worte ausprobierte. Ich konditionierte mich damit, Gefahr erkennen und gleichzeitig auf mich selbst aufpassen zu können. Hätte ich das nicht fertig gebracht, ich glaube, ich wäre verrückt geworden.

Und nun. ‚Das Zeitliche segnen‘ hat sich für mich wirklich nicht schlimm angehört. Meine Mutter hatte es zwar geschrien, aber sie redete fast nie leise. ‚Segnen‘ klingt generell für Kinderohren nicht wie Strafe, Schmerz oder Angst. Probe aufs Exempel: In keiner Tonlage klingt „segnen“ gefährlich. Auch „das Zeitliche“, mag mir damals in der Bedeutung vollkommen unbekannt gewesen sein, schön hat es geklungen. Worte mit -i- oder -ie- oder -ei- haben sowieso sehr oft einen beruhigenden Klang für mich gehabt. Also habe ich geschlussfolgert, wenn ich Salz lecke, macht es mich schön und meine Mutter froh. Meine Idee war, ich erledige das, bevor sie es von mir verlangt. Dann hätte ich schon das Zeitliche gesegnet, ehe sie sich aufgeregt hat und mir tut es nicht weh.

Für die damalige Zeit hatten wir eine höchst luxuriöse Wohnung. Genossenschaftseigentum. Meine Eltern waren Mitglied einer kleinen Wohnungsbaugenossenschaft, das Haus makellos in Ordnung und die Gegend unverbaubar am Hochufer der Mulde. Knapp 100 qm insgesamt. Langer, schmaler Flur, extra WC, Schlafzimmer, riesige Wohnküche, großes Wohnzimmer, großes Schlafzimmer, Bodenkammer, Wäscheboden, Keller. Extra Gemeinschaftswaschhaus, Wannenraum, Fahrradraum und Handwagenraum. Dazu ein richtig großer Hof und ein etwa 400 qm großer Garten. Unglaubliches Glück für die damalige Zeit. Ich erinnere mich an Freunde meiner Eltern, die noch bis in die 70er Jahre in Holzbaracken gelebt haben. Mein Mutter baute in unsere Bodenkammer ein komplettes Badezimmer ein, trotzdem war noch ausreichend Platz für einen grossen Arbeitstisch, alte Schränke, in denen die Decken, Mäntel, Betten für Winter/Sommer gelagert waren und eine Spielecke für mich. Ausserdem setzte in einer Ecke des Raumes mein Vater jedes Jahr einige Ballons Brot- und Reiswein an.
Nun, ich erzähle das des Überblicks wegen, will aber auch eine Eigenheit beschreiben. Nämlich gab es unter dem Fenster in der Küche einen kleinen Einbauschrank, der durch diese Lage immer klimatisiert gewesen ist und Fensterspind genannt wurde. Bei uns standen dort die Gewürze – also auch das Salz.

An dem Tag, an dem ich das Zeitliche segnen wollte, bin ich ziemlich schwach. Ich habe Windpocken, muss schon seit vielen Tagen daheim bleiben. Meine Mutter kann nicht arbeiten gehen. Seit mein Fieber weg ist, darf ich aufstehen und soll nun wieder einige Hausarbeiten übernehmen. Meine Mutter ist seit dem frühen Morgen mit einer Nachbarin im Wohnzimmer. Ich höre die Frauen. Sie reden sehr laut.
Überhaupt scheint in der Zeit alles laut zu sein. Ich habe mit meinem Kinderhirn gedacht, durch den Kriegslärm, die Hilfeschreie, das Weinen, die Panik, ist der Pegel der Kommunikation immer irgendwie mit Lärm verbunden. Die Stimme meiner Mutter kann gar nicht leise klingen. Die Frauen reden, wie immer, schlecht über eine Nachbarin. Diese ist bis vor einer Stunde auch mit dabei gewesen ist, nur haben sie sich da über eine andere Frau aufgeregt. Ich nehme mir schon in diesen Kindertagen vor, wenn ich groß bin, werde ich niemals den Schlüssel stecken lassen, damit jeder einfach zweimal klingeln und in die Wohnung kommen kann. Zwar denke ich, das ist Pflicht, weil es bei allen Bekannten meiner Mutter so ist, bin aber fest entschlossen: Ich werde das abschaffen.

Um auch recht hübsch das Zeitliche zu segnen, hatte ich mir eine Hidsche vor den Fensterspind gesetzt. Hidsche, das ist der damals typisch sächsische (Kinder-?)Ausdruck für Fußbank. Anderswo heißen sie Trittbank, Schemel oder Hocker. Für kleine Kinder die Möglichkeit ihre Körpergröße aufzuwerten. Für mich sozusagen ein Arbeitsmittel. Aber so ein Möbel ist auch zum Sitzen sehr gut geeignet. So nahe am Boden ist die Fallhöhe gering.

Hidsche

damals wurde sie Hidsche genannt

Ich sitze also, den Salzbehälter zwischen meinen Beinchen auf der Hidsche abgestellt, vor dem Fensterspind. Finger in den Mund und dann ins Salz, lecke ich und finde es schrecklich. Aber, ich kenne auch die Sprüche: „Ohne Fleiß kein Preis“ und „Vor die Gnade braucht´s die Pein“.

Bei der Gelegenheit (wiederholt): Daher rührt auch meine lebenslange Abneigung gegen Sprüche. Nicht mal der Nutzer von Sprüchen, kann sicher sein, damit auszudrücken, was er sagen will. Wie er verstanden wird, kann er nicht mal ahnen.

Den Sinn der Sprüche selbst suchend, habe ich gedacht, zeitliches zu segnen muss so schön sein, dass vorher eben dieses abscheuliche Salz nötig ist. „Nichts gibt´s für umsonst“, sagt ein Spruch, den es offenbar umsonst gibt. Also lecke ich Salz. Es schmilzt im Mund. Ganz erstaunlich für ein kleines Kind, diese feinen Körner sind nicht körnig wie z.B. feiner Sand. Die Wangen fühlen sich innen bald seltsam an, die Zunge brennt, die Zähne bekommen eine stumpfe Schicht. Das registriere ich geflissentlich. Immerhin will ich etwas vom „Zeitlichen segnen“ haben. Brechreiz stellt sich ein, damit habe ich Übung, den kann ich weg atmen. Ich bekomme Durst, habe Angst, meine Mutter könnte mich hören und in die Küche kommen. Deshalb bewege ich mich nicht von der Stelle. Immer wieder Finger ins Salz und dann in den Mund. Hustenreiz. Schlimmer Durst. Ich lecke weiter das Salz von meinem Finger und höre Ziegen meckern. Aus einem Märchen weiß ich, ein Kind kann auch in ein Reh verwandelt werden. Sollte ich etwa eine Ziege werden, weil ich eine Nachgeburt bin?
Irgendwann stehe ich, ohne jeden Gedanken an die Folgen, auf, gehe zum Waschbecken, bin zu klein für den Wasserhahn, rücke einen Stuhl zurecht, klettere darauf … Ich schaffe es nicht, den Wasserhahn aufzudrehen, werde leicht wie eine Feder, es rauscht in meinen Ohren, alles bekommt hübsche Farben. Ich finde, das Zeitliche segnen ist wirklich schön und hoffe, es geht weiter, falle vom Stuhl, merke davon aber nichts mehr.

(ACR)

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